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Freunde & Förderer

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Testimonial Berghöfer

Jochen Berghöfer
Jochen Berghöfer, Geschäftsführung Haus Mignon – Institut für Heilpädagogik, Pädagogik und Frühförderung, Hamburg
Die Vision, ein Institut zu gründen mit der Aufgabenstellung, "die Perspektive von Menschen mit Behinderung ... (mehr)

Laudatio auf die Nachwuchspreisträgerin

von Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist mir eine große Freude, Ihnen die diesjährige Gewinnerin des Nachwuchspreises des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft vorstellen zu dürfen. Mit diesem – immerhin mit 2.000,- € dotierten – Preis werden herausragende Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen ausgezeichnet, die sich mit den gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen und Folgen medizinischer Forschung und Praxis befassen und damit einen Beitrag zur Gleichberechtigung und Anerkennung von chronisch kranken und behinderten Menschen leisten.

In diesem Jahr wird der IMEW-Nachwuchspreis zum zweiten Mal vergeben. Insgesamt wurden in dieser Runde 15 Arbeiten eingereicht – eine sehr erfreuliche Resonanz, die zeigt, wie viel Aufmerksamkeit der Preis binnen kurzem auf sich gezogen hat. Die Jury war zudem angetan von dem breiten Themenspektrum, das die eingereichten Arbeiten abdecken. Da geht es – um nur einige der behandelten Themen zu nennen – um gehörlose Fachkräfte in der Gehörlosenpädagogik, um das Leben mit einer Seltenen chronischen Erkrankung, um das Bedürfnis nach Selbstbestimmung im Kontext der Pflegebedürftigkeit, um die Kompetenzen von Kindern mit Anenzephalie, um das Arzt- und Menschenbild der Bundesärztekammer oder um hermaphroditische Körper. Die Arbeiten stammen aus verschiedenen Fachdisziplinen, gehen von je eigenen theoretischen Konzepten aus, bedienen sich höchst unterschiedlicher Methoden, und auch die Repräsentationsformen unterscheiden sich voneinander – bis hin zu einem Filmprojekt.

Angesichts dieser Vielfalt war es für die Jury nicht leicht, die eingereichten Arbeiten einer vergleichenden Bewertung zu unterziehen. Immerhin kamen wir – unter Zugrundelegung der vier uns vorgegebenen Kriterien (wissenschaftliche Qualität, thematischer Bezug zur Arbeit des IMEW, Originalität der Themenstellung und Interdisziplinarität) – rasch zu dem Schluss, dass drei der eingereichten Arbeiten sich deutlich von den übrigen abhoben. Kopfzerbrechen bereitete uns das Erstellen einer Rangliste. Alle drei in die engere Wahl gezogene Arbeiten erfüllen höchste wissenschaftliche Standards, sie sind von ihrer Thematik, Fragestellung und Methodik erfrischend originell, die behandelten Themen und die gewonnenen Befunde sind für die Arbeit des IMEW mittelbar oder unmittelbar von kaum zu überschätzender Relevanz. Auch wenn wir uns letztlich einvernehmlich für eine Platzierung entschieden haben, möchte ich doch hervorheben, dass das Rennen überaus knapp war.

Auf den dritten Platz haben wir die Arbeit „Der Mensch als Biofakt. Eine Systematik technischer Optimierungen des Lebendigen aus ethischer Perspektive“ von Dr. Nicole Karafyllis gesetzt. Frau Karafyllis ist Biologin und Philosophin und seit kurzem als Professorin am College of Humanities and Social Sciences an der United Arab Emirates University in Al Ain tätig. Die eingereichte Arbeit ist eine Kurzfassung ihrer Habilitation, die 2006 von der Fakultät für Philosophie der Universität Stuttgart angenommen worden ist. Nicole Karafyllis befasst sich – am Beispiel von im Labor gezüchteten Vor- und Zwischenstufen menschlichen Lebens – mit dem „hybriden Status“ des Menschen zwischen der Natur als etwas Wachsendem und Werdendem und der Technik als etwas Gemachtem. An Gedanken Martin Heideggers anknüpfend, leistet sie einen basalen Beitrag zu aktuellen bio- und medizinethischen Debatten, die oft genug ihre eigenen Prämissen und Kategorien nicht hinreichend reflektieren.

Der zweite Platz geht an Dr. Torger Möller für seine Arbeit „Vorurteile und andere Folgen medizin-wissenschaftlichen Wissens – Wie wurde der Epileptiker zum Geisteskranken?“ Herr Möller ist Soziologe und Medizinsoziologe, hat mehrere Jahre lang am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Geschäftsstelle „Wissen für Entscheidungsprozesse – Forschung zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet. Die eingereichte Arbeit, eine Kurzfassung der Dissertation von Torger Möller, ist im Grenzbereich von Wissens- und Medizinsoziologie angesiedelt, bedient sich einerseits des Instrumentariums der klassischen Begriffsgeschichte, knüpft andererseits an Ludwik Flecks Unterscheidung zwischen populärer Wissenschaft, Zeitschrift- und Handbuchwissenschaft an – drei Bereiche, in denen unterschiedliche Halbwertzeiten wissenschaftlichen Wissens zu beobachten sind. Bei der Popularisierung wissenschaftlichen Wissens werden alte, aus dem Blickwinkel der Zeitschriftenwissenschaft sogar längst veraltete Wissensbestände mit fortgeschleppt, was Vorurteile in der Öffentlichkeit in folgenschwerer Art und Weise verfestigen kann. Herr Möller führt dies am Beispiel der ominösen „epileptischen Wesensveränderung“ aus, die – obwohl in der Zeitschriftenwissenschaft obsolet – in Lehrbüchern und Lexika immer wieder fröhliche Urstände feiert und aus Epilepsiekranken psychisch Kranke macht.

Nun aber zur diesjährigen Preisträgerin! Die Jury hat entschieden, den ersten Platz an Dr. Helen Kohlen für ihre Arbeit „Hospital Ethics Committees and the Marginalization of Care“ zu vergeben. Frau Kohlen ist gelernte Krankenschwester, Gymnasiallehrerin und Sozialwissenschaftlerin und seit kurzem Juniorprofessorin an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Die eingereichte Arbeit ist eine Kurzfassung ihrer pflegewissenschaftlichen Dissertation. Von der Konzeption der Care Ethics ausgehend und den besonderen Blickwinkel Pflegender einnehmend, befasst sich die empirische Studie mit der Praxis klinischer Ethikkomitees in deutschen Krankenhäusern – auf der Hintergrundfolie der Entwicklung in den USA. Hier liegt bereits ein erster Vorzug der Arbeit – eine transnationale Vergleichsebene, die es ermöglicht, die Befunde zu den klinischen Ethikkomitees in Deutschland in einen internationalen Kontext einzubetten, was schon insofern unumgänglich ist, als die Entwicklung klinischer Ethikkomitees in Deutschland weitgehend dem US-amerikanischen Modell folgt. Eine weitere, höchst aufschlussreiche Vergleichsebene wird dadurch eröffnet, dass Helen Kohlen, der zerklüfteten deutschen Krankenhauslandschaft Rechnung tragend, drei Krankenhäuser in unterschiedlicher Trägerschaft miteinander vergleicht: ein vormals kommunales, kürzlich privatisiertes, ein evangelisches und ein katholisches Krankenhaus. Es zeigt sich, dass die Organisationsstruktur, die kommunikative Praxis und die Gesprächskultur deutliche Unterschiede aufweisen.

Ein dritter und entscheidender Vorzug ist der methodische Zugang der Arbeit. Zwanzig Monate lang, von 2004 bis 2006, hat Helen Kohlen die Sitzungen der klinischen Ethikkomitees an den drei untersuchten Krankenhäusern – fast könnte man sagen: mit dem „fremden Blick“ einer Ethnologin – beobachtet, die Diskussionen protokolliert, sich Notizen zur nonverbalen Kommunikation gemacht. Die Protokolle bilden die Quellenbasis der Arbeit, ergänzt durch schriftliche Unterlagen zur Gründungsgeschichte der Komitees und durch vertiefende Interviews mit ihren Mitgliedern. Auf dieser Materialgrundlage beschreibt und deutet Helen Kohlen drei Gesprächssituationen, die in der Darstellung überaus plastisch hervortreten. Leserinnen und Leser, die – in welcher Funktion auch immer – jemals in einem Krankenhaus gearbeitet haben, dürften die geschilderten Szenen unmittelbar vor Augen haben, können die Dynamik der Gesprächssituation nachvollziehen. Die Lektüre ist, so mein Eindruck, streckenweise spannend wie ein Krimi.

Die Analyse der geschilderten Szenen fällt eindeutig aus: Belange der Pflege und der Pflegenden kommen in den klinischen Ethikkomitees nicht hinreichend zum Zuge, ja sie werden regelrecht marginalisiert. Da bringt eine Pastorin die schriftliche Stellungnahme einer Schwester in die Diskussion ein, der eine zwei Jahre zuvor erlebte Situation keine Ruhe lässt. Damals sollte eine ältere Patientin eine Blutkonserve erhalten. Als die Konserve aus dem Labor eintraf, war sie noch sehr kalt, und die diensthabende Ärztin wies die Schwester an, die Blutkonserve auf den Bauch der alten Dame zu legen, um sie zu erwärmen. Die Schwester weigerte sich, und die Ärztin wies sie an, eine andere Schwester damit zu beauftragen, eine, die „professioneller“ sei als sie. Der Fall wird vom klinischen Ethikkomitee, schon gegen Ende der Sitzung, kurz besprochen. Dabei sind die Ärzte tonangebend. Einer meint, vom medizinischen Standpunkt aus sei das Ansinnen der Kollegin „absurd“ gewesen – interessanterweise erfolgt aber im weiteren Verlauf des Gesprächs keine ethische Bewertung des Verhaltens der Ärztin, einzig und allein das Verhalten der Schwester ist Gegenstand der Debatte. Eine der mit debattierenden Schwestern gibt zu bedenken, ihre Mitschwester fühle sich als Anwältin der Patientin und wolle deren Autonomie wahren, aber dieser Impuls verhallt in der Diskussion ungehört. Zwei andere Ärzte urteilen, es handele sich um ein geringfügiges ethisches Problem – das man, so darf man wohl folgern, nicht weiter zu erörtern brauche. Am Ende fügt einer dieser beiden Ärzte noch hinzu, er fühle sich von der Beschwerde führenden Schwester instrumentalisiert – es handele sich überhaupt nicht um ein ethisches Problem. Man befindet, der Fall habe mit Hierarchie und fehlgeschlagener Kommunikation zu tun. Der Schwester solle, so entscheidet man, mitgeteilt werden, sie habe nichts falsch gemacht. Der Hinweis einer der Schwestern aus dem Komitee, man solle ihr auf keinen Fall sagen, es handele sich um ein kleines oder gar kein ethisches Problem, bleibt im Raum stehen. Die Sitzung endet abrupt. – Man sieht sehr deutlich: In dieser Situation sind es die Ärzte, die entscheiden, was ein ethisches Problem ist und was nicht, was ein wichtiges ethisches Problem ist oder ein unwichtiges, und nach welchen Kriterien dies entschieden wird. Aus medizinischer Sicht sind nur Behandlungssituationen zu diskutieren, die ein ethisches Dilemma implizieren. Die Pflegenden haben, deutlich erkennbar, eine andere Sicht der Dinge, für sie sind die „activities of daily life“ und die ethischen Fragen im Zusammenhang damit relevant, sie können diese Sichtweise aber im Rahmen des klinischen Ethikkomitees nicht artikulieren, vielleicht, weil sie es nicht verstehen, die Materie in den sprachlichen Formen des herrschenden Diskurses auszudrücken.

Ein anderes beeindruckendes Beispiel: Der Runde Tisch für den Ethikdialog in dem untersuchten evangelischen Krankenhaus befasst sich auf schriftliche Anregung mehrerer Mitarbeiter/innen mit dem Problem, dass kein Raum für sterbende Patienten zur Verfügung steht, manche Patienten sogar im Badezimmer sterben müssen. Dies ist bezeichnenderweise kein eigener Tagesordnungspunkt, sondern wird unter „Verschiedenes“ am Ende der Sitzung abgehandelt. Nach kurzer, eher unstrukturierter Diskussion wird der Vorschlag gemacht, das Thema in einer Arbeitsgruppe weiter zu behandeln. Die Pflegedienstleiterin, die sich bis dahin nicht an der Diskussion beteiligt hat, fragt daraufhin aggressiv, was eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Geistlichen und Pflegkräften, denn bewirken könne. Im Interview bringt diese Pflegedienstleiterin später ihren Frust zum Ausdruck: Alle Initiativen zur Verbesserung der Lage Sterbender seien im Sande verlaufen. Der aggressive Kommentar am Runden Tisch provoziert den Krankenhausdirektor zu einem abschließenden indignierten Kommentar: Das sei doch eine Frage der Diakonie! Allein die Beschreibung dieser einen Szene lohnt die Lektüre der Arbeit, zeigt sich hier doch die ganze Hilflosigkeit eines konfessionellen Krankenhausträgers. Diakonie wird hier nicht als leitendes Prinzip begriffen, das die Architektur, die Organisation, das Pflegemanagement usw. bestimmt, sondern als besondere Haltung der Pflegenden, als christliches Engagement, das die Situation sterbender Patienten allen Widrigkeiten zum Trotz erträglich gestalten soll. Kein Wunder, dass diese Zumutung bei den Pflegenden Widerständigkeit auslöst.

Klinische Ethikkomitees sind, wie Helen Kohlen eingangs ihrer Arbeit hervorhebt, aus der Sicht der empirischen Forschung noch immer „black boxes“. Wir wissen nicht wirklich, was dort geschieht, welche Probleme auf welche Art und Weise thematisiert werden, welche Gruppen mit welchen Interessen in diesen Komitees agieren, welche Gruppenkonflikte es gibt usw. Die Arbeit von Helen Kohlen wirft ein erstes helles Licht auf diese Materie. Jenseits aller Idealisierung lotet sie die Möglichkeiten und Grenzen dieser Komitees aus. Mehr noch: Sie regt dazu an, über die Voraussetzungen, die Spielregeln und die Rahmenbedingungen medizinethischer Diskurse systematisch nachzudenken.

Ich wünsche der vorzüglichen Arbeit die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie verdient hat, der Autorin Helen Kohlen alles Gute für ihre weitere wissenschaftliche Karriere und gratuliere im Namen der Jury und des Beirates zum Gewinn des IMEW-Nachwuchspreises 2008!

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